Der große Raum des Jugendkellers ist fast zu klein, man sitzt teilweise zweireihig im Kreis: Von allen drei Jugendgruppen sind der Großteil der Jugendlichen da, auch eine Firmgruppe.
›Was ich euch erzähle, ist alles wahr, habe ich selbst leider Gottes erlebt. Es ist nichts dazugedichtet.‹, beginnt Susanne Lamberg, jene Zeitzeugin die fünf Konzentrationslager überlebt hat und sich gerne bereit erklärt hat, in den Jugendkeller zu kommen, um ihre Geschichte zu erzählen.
Im März 1938 hatte Susanne Lamberg – zwölfeinhalb Jahre alt, ein Einzelkind, von ihren Eltern stets vor allem Bösen bewahrt – von der Politik nicht viel mitgekriegt. Gelebt hatte sie mit ihren Eltern in Wien, im 9. Bezirk, unweit der Votivkirche. Es hätte die Möglichkeit gegeben, Susanne Lamberg nach England zu schicken, doch der Vater glaubte fest, dass Hitler sich nicht lange halten würde.
Die Lambergs waren keine frommen Juden, im Gegenteil: Sie hielten alle christlichen Feiertage. Susanne Lamberg besuchte eine Klosterhauptschule und ging jeden Sonntag mit der Schule in die Kirche. Dass ihr Vater Jude war, war schon vor 1938 an seinem Arbeitsplatz nicht gerne gesehen. So ließ er sich 1935, seine Tochter 1936 taufen.
Taufe oder nicht, nach den sogenannten Nürnberger Gesetzen galten die Lambergs als Juden. Da der Vater Arzt war, hatte er die Möglichkeit, auch nach 1938 noch zu arbeiten, allerdings durfte er nur Juden behandeln. Und selbstverständlich mussten sie den gelben Stern tragen.
Die Lambergs hatten sich lange in Wien gehalten, doch dann wurde es auch für sie ernst: Im Oktober 1942 wurde Susanne Lamberg mit ihren Eltern und ihrer Großmutter nach Theresienstadt deportiert. Theresienstadt war ein Konzentrationslager, ein Ghetto, das von den Juden selbst erhalten wurde. Susanne Lamberg war inzwischen 17 Jahre alt, arbeitete in der Maschinentischlerei und stellte unter anderem Stockbetten auf.
In Theresienstadt habe sie noch keinen Hunger gelitten, arm seien aber die alten Menschen gewesen, meint Susanne Lamberg. Sie hatte bei der Ausspeisung Bekannte und daher oft doppelte Portionen bekommen. Außerdem bekam sie mit ihrer Schwerarbeiterkarte eine halbe Portion extra. So hatte sie sich ›einen Speck angefressen‹, war nie geschwächt und vielleicht war das der Grund, weshalb sie die kommenden Monate überleben konnte, meint sie. In Theresienstadt blieb Susanne Lamberg zwei Jahre, gemeinsam mit ihren Eltern und ihrer Großmutter.
Im September 1944 wurde Susanne Lamberg mit ihren Eltern in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz gebracht. Gleich bei der Ankunft des Zuges wurden Männer und Frauen getrennt. Sie ging mit ihrer Mutter eingehängt, aber ein SS-Mann, der jüngere Frauen heraussuchte, schubste Susanne Lamberg auf die andere Seite mit den Worten: ›Du bist jung und kannst arbeiten! Geh!‹ Susanne Lamberg konnte sich von ihrer Mutter nicht verabschieden, was ihr bis heute sehr nahe geht, weil sie ihre Mutter niemals mehr gesehen hat.
Die Häftlinge mussten sich ausziehen und komplett rasieren. Mit einem Petroleumfetzen wurde der Kopf gegen Läuse desinfiziert. Man bekam holländische Hausschlapfen und irgendwelche Kleidung zugeworfen. Drei bis fünf Tage lang – Susanne Lamberg hat hier Zeitbegriffe vergessen – wurden die Häftlinge auf engstem Raum am Fußboden festgehalten, sind nie zum Schlafen gekommen.
Der Transport nach Auschwitz hatte ca. 1.500 Leute umfasst, wovon ca. 130 Frauen und ca. 48 Männer ausgesucht worden waren, auch der Vater (der dann später in einem Nebenlager des KZ Dachau kurz vor Kriegsende verstorben ist). Diese Gruppe von Häftlingen wurde auf 1.000 aufgefüllt, darunter war dann auch die Tante und die Schwester des Vaters. Dann hätten sie erst überhaupt gehört, was Auschwitz ist, meint Susanne Lamberg. ›In Theresienstadt haben wir überhaupt noch nichts gewusst.‹
Susanne Lamberg hätte damals in Theresienstadt die Möglichkeit gehabt, zu bleiben, weil es für die Tischlerei einen neuen Heeresauftrag gegeben hatte und der Produktionsleiter angeboten hatte, sie dazubehalten. Susanne Lamberg aber hatte sich entschieden, bei den Eltern zu bleiben und mit ihnen nach Auschwitz zu gehen. ›Wäre ich dort gebleiben, hätte ich mir mein Leben lang Vorwürfe gemacht, weil ich geglaubt hätte, ich hätte meiner Mutter helfen können. – Ich konnte ihr eh nicht helfen...‹
Das Aufsichtspersonal in Auschwitz waren selbst Insassen, die sogenannten ›Lagerkapos‹, oft noch schlimmer und brutaler als die SS. ›Da schaut´s, da brennen eure Eltern‹, sagten sie auf die Schornsteine zeigend. ›Es hat eine lange Zeit gegeben, wo ich keinen rauchenden Schornstein sehen konnte.‹, meint Susanne Lamberg. Dann hieß es ›Ihr kommt´s in die Sauna‹. Die Gaskammern sahen genauso aus, wie die Brauseräume: Ein riesiger Raum mit Leitungen und Brausen an der Decke, wo Zyklongas herauskam – oder eben Wasser, wie bei Susanne Lamberg.
Die drei bis fünf Tage warten waren zermürbend: ›Wenn eine Zugsgarnitur kommt, geht´s ihr auf Arbeit, wenn nicht, geht´s ihr auch ins Gas.‹ Die Häftlinge lebten von einer Stunde auf die andere.
Die Zugsgarnitur kam – und es ging nach Schlesien in ein Arbeitslager. Dort ging es auf Arbeit: Mit Krampen und Schaufeln Panzerfallen und Schützengräben graben. Zu essen: Eintopf und Brot. Der Besitz: Ein Teller, ein Löffel, ein Papierschlafsack, eine Decke, die man wegen der Kälte als Umhang verwendete, sowie einen Kopfpolster, gefüllt mit Holzwolle, die dann auch als Waschlappen, Zahnbürste und Klopapier verbraucht wurde. Morgens ging es raus zur Arbeit, abends rein, egal ob es regnete oder nicht. Dann im strengen Winter war die Erde zugefroren, die Arbeit ging nicht weiter, hatte keinen Sinn mehr. So wurden sie zum Tragen von Baumstämmen in den Wald geschickt.
Als die Front näher rückte und auch schon Kanonendonner hörbar war wurden die Häftlinge zu Fuß über Landstraßen weiter geschickt: Der Todesmarsch. Aus dem Kopfpolster hatte man sich einen Rucksack gebastelt, als Proviant auf einem Feld Rüben gefunden, die allerdings im Rucksack erfroren sind und dann ungenießbar waren. Wer umfiel und nicht mehr weiter konnte, wurde von der SS erschossen. So kam Susanne Lamberg in ihr viertes Lager: Großrosen.
Im Konzentrationslager Großrosen wurden die Häftlinge wieder in Baracken untergebracht, allerdings diesmal ohne Arbeit. Dann mussten sie am Bahnhof antreten und wurden in offene Kohlewaggons verfrachtet, stehend, ganz eng beieinander.
Bei der mehrere Tage andauernden Zugfahrt, gab es ein Problem, ein ganz menschliches: Ein Kohlewaggon hat keine Toilette. So benutzte man eine Menageschale, die man durch die dichtgedrängte Menschenmenge durchreichte und über Bord kippte.
Der Zug kam nach Weimar. Die Häftlinge sollten in das Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht werden. Dieses Lager aber war voll und außerdem ein Männerlager. Während der Verhandlungen ein Bombenangriff: Susanne Lamberg sah das Abwerfen der Bomben und hatte schon mit ihrem Leben abgeschlossen. Aber der Bahnhof – ein übliches Ziel bei Bombenangriffen – wurde nicht getroffen. Die Zugfahrt ging weiter, kreuz und quer durch Deutschland, über Umleitungen, denn durch die Kriegsschäden waren viele Bahnstrecken nicht mehr befahrbar.
So kam Susanne Lamberg in ihr fünftes Lager: Bergenbelsen. In Baracken untergebracht lag man die erste Zeit am Fußboden, mit den Decken, die man noch hatte. Die Tante war schon die ganze Zeit mit ihr, und hatte nun neben ihr am Fußboden geschlafen. Als Susanne Lamberg eines Tages morgens aufgewachte, wachte die Tante nicht mehr auf...
Es begann das Elend mit den Läusen. Die Häftlinge wurden dann in Betten gelegt, in normale Betten, jeweils zu viert, zwei nebeneinander, zwei gegenüber.
Arbeit gab es keine. Man machte nichts mit den Häftlingen, sie sind einfach dahinvegetiert. Dann war das Wasser abgesperrt. Die Häftlinge mussten aus einem Wasserreservoir trinken, wo andere auch sich selbst und die Wäsche wuschen. Viele – auch Susanne Lamberg – erkrankten an Typhus. Und weil die Häftlinge nicht mehr mit Nahrung versorgt wurden, begann auch der große Hunger.
Eines Tages hieß es, dass die Engländer kommen, die Befreiung bevorsteht. Susanne Lamberg hatte es zuerst nicht geglaubt, aber sie kamen tatsächlich. In diesem Moment war die ganze SS verschwunden. Susanne Lamberg nutzte die Gelegenheit, um nach Essbarem zu suchen und fand auf einem Misthaufen Erdäpfel- und Rübenschalen. Nachdenken darf man nicht, meint Susanne Lamberg. ›Wer angefangen hatte zu denken, ist am Besten gegen den mit Strom geladenen Stacheldraht gelaufen.‹
Die letzten 40 Tage vor der Befreiung hatten die Häftlinge nichts mehr zu essen bekommen. Bei der Ankunft der Engländer war Susanne Lamberg 20 Jahre alt, abgemagert bis zu den Knochen und wog 35 Kilo.
Zuerst gab es von den Engländern die sogenannte ›eiserne Ration‹, dann eine ganz fette, nahrhafte Fleischsuppe, die gierig hinein gegessen wurde. Auf diese Suppe starben einige Häftlinge, weil sie das plötzliche Essen nicht ausgehalten hatten.
Die Häftlinge sind zuerst noch eine Weile im Lager geblieben und kamen dann in ein anderes Lager mit überzogenen Betten. Dort wurde Susanne Lamberg ärztlich untersucht: Aufgrund einer Lungenerkrankung, ihrer Schwäche und dem Typhus kam sie in ein Lazarett. ›Die Engländer haben versucht, mich aufzupeppeln. Ich konnte nur ganz wenig essen, war sehr krank und sehr schwach.‹, erklärt sie.
Susanne Lamberg´s einziger Gedanke war nun: Sofort zurück nach Wien. Sie wusste aber nicht, wer von ihren Verwandten noch lebte. Eine Ärztin riet ihr von der Rückkehr nach Wien ab: ›Dort gibt es nichts zu essen, dort gehst du zu Grunde.‹ Sie überredete sie, nach Schweden zu fahren.
Mit einem Transport des Roten Kreuzes wurde Susanne Lamberg liegend – so schlecht war ihr Zustand noch immer – nach Schweden gebracht. Die Schweden hatten sie gesund gepflegt, erzählt sie. ›Die Heilsarmee hat mich betreut, sich ganz rührend gekümmert, zum Teil sogar Deutsch gesprochen.‹
Nachdem Susanne Lamberg gesund war, kam sie in ein Rekonvaleszentenheim und begann dann in einem Spital zu arbeiten – vier Jahre lang.
Susanne Lamberg ist erst 1949 nach Wien zurückgekehrt. Außer ihrer Großmutter, bei der sie dann auch gelebt hat, ist ihre ganze Familie – ihre Eltern und die Mutter ihrer Mutter – umgekommen.
Susanne Lamberg´s Schlusssatz: ›Ein Mensch soll nicht das aushalten müssen, was er aushalten kann. Weil das kann sich keiner von euch vorstellen, was ein Mensch alles aushalten kann.‹
Susanne Lamberg beantwortet – nachdem sie rund eine dreiviertel Stunde gesprochen hat – noch über eine Stunde unzählige Fragen.
Zum Beispiel wird sie gefragt, ob sie jemals daran gedacht hatte, sich auf den elektrischen Zaun zu werfen. ›Nein‹, meint sie. ›Ich wollte immer leben. Mein einziger Gedanke war: Ich will da rauskommen, ich will weiterleben, wie immer.‹
Auch die Frage nach dem Hass den Tätern gegenüber beantwortet Susanne Lamberg: ›In diesem Moment stelle ich mich auf die gleiche Stufe wie die Anderen. Was bringt´s mir?‹
Nach insgesamt zwei Stunden wird das Treffen offiziell beendet, aber niemand geht, alle bleiben da, stellen weitere Fragen, saugen jedes Wort neugierig auf. Am Ende sind noch einige Mitarbeiter da und Susanne Lamberg bleibt mit ihnen bis kurz vor Mitternacht.
Sehr geehrte Frau Lamberg, sollten Sie diese Zeilen lesen, möchten wir Ihnen nochmals ein herzliches Danke sagen, dass Sie sich für uns Zeit genommen und uns an Ihrer Geschichte teilnehmen haben lassen: Danke.
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